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Inspiration

 

Hier finden Sie von Zeit zu Zeit kurze Impulse.

 

 

Geht nicht gibt's.

 

“Du kannst alles schaffen! Think big! Geht nicht, gibt’s nicht! Du musst es nur wollen! Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum! Die Grenzen existieren nur in deinem Kopf! Nimm es dir! …” So der Tenor vieler Selbst- und Fremdbeschwörungen. Und es ist wirklich beeindruckend, zu was Menschen fähig sind. Wir können viel mehr, als wir denken. Die Tage las ich vom Briten Gary McKee, der in 2022 an jedem (!) Tag des Jahres einen Marathon gelaufen ist. Vor der Arbeit. 18.026 Kilometer, 22 Paar Laufschuhe. Unfassbar. Oder die Ironmen und -women, Nobel-Preisträger, Wingsuit-Jumper, der Präsident der Vereinigten Staaten mit 80 Jahren… Nichts ist unmöglich! Aber gilt das für jeden?

Immer wieder beschleicht mich dabei ein unbehagliches Gefühl. Bin ich einfach nicht zäh genug? Vermutlich. Brauche ich mehr Disziplin? Mit Sicherheit. Doch die Zahl Pi bis zur 15.637 Nachkommastelle auswendig lernen? Ist möglich. Susanne Hippauf hat es bewiesen und ist damit die deutsche Rekordhalterin im Pi-Memorieren-Wettbewerb. Kein Witz - den gibt es. Du kannst es auch. Musst es nur wollen. Glaub an dich. Mhh…

Was vielleicht ein wenig absurd klingt, erscheint mir ein wirkmächtiges Narrativ unserer Kultur zu sein. In der Aneignungslogik, wie der Soziologe Hartmut Rosa das nennt, sind wir Menschen daran gewöhnt, dass Grenzen dazu da sind, überwunden zu werden. Wir machen uns das Leben, die Natur und uns selbst verfügbar. Und da ist ja auch etwas dran. Wer hat nicht schon den Werkstolz gespürt oder die Befriedigung genossen, ein unerreichbar scheinendes Ziel mit Anstrengung, Fleiß, Hingabe und Leidenschaft erreicht zu haben. Der ambitionierte Aufstieg zum Gipfel, der berufsbegleitende Studienabschluss, ein Heiratsantrag mit zitternden Knien, eine Fastenzeit, der erste Bühnenauftritt, die nächste sportliche Hürde, einige Tage offline… Es gibt Grenzen, deren Überwindung gut, konstruktiv und beflügelnd ist! Sie fordern uns heraus, stimulieren Disziplin und fördern Wachstum, Vitalität und Zufriedenheit. Es ist keine Tugend, sich zu schnell mit dem Erstbesten zufrieden zu geben.

Doch es gibt auch Grenzen, die uns nicht zur Überwindung gegeben sind, sondern zur respektvollen Akzeptanz. Das liegt vielleicht auf der Hand, wenn man es, so wie ich gerade, ad absurdum führt. Doch in der Lebenswirklichkeit vieler Menschen entstehen an diesen Grenzen nicht selten massive Verschleißerscheinungen. Wo wir auf “Biegen und Brechen” erzwingen, was uns beim besten Willen nicht gegeben ist, zerbrechen wir innerlich und/oder äußerlich. Wir träumen verbissen von Omnipotenz. Doping ist da nur folgerichtig. Die Gesundheit wird dem ersehnten Erfolg und der verzweifelt gesuchten Anerkennung geopfert. Die Beziehung erstickt in massiven Über-Forderungen zu hoch gesteckter Ziele von Karriere und Familie. Die mentale Gesundheit fällt dem unbarmherzigen Druck perfektionistischer Selbstausbeutung zum Opfer. Das Selbstvertrauen wird in ritualisierten Enttäuschungen unerbittlicher Erwartungen an sich selbst untergraben. Innerer Friede und Lebensfreude gehen auf der oft jahrelangen Jagd nach dem vermeintlich besseren Leben verloren oder werden unzufrieden in die Zukunft projiziert.

Geht nicht gibt’s! Nicht alles ist jedem möglich. Es kann eine schmerzhafte aber heilsame Ent-Täuschung sein, zu erkennen und anzuerkennen, wo wir inneren oder äußeren Luftschlössern nachjagen. Schon die alte Weisheitsliteratur kennt dieses Phänomen:

“Besser ein trockner Bissen mit Frieden als ein Haus voll Geschlachtetem mit Streit.” (Sprichwörter 17,1)
”Besser eine Hand voll mit Ruhe als beide Fäuste voll mit Mühe und Haschen nach Wind.”
(Kohelet 4,6)

Hier werden die Kosten für das angestrebte Ziel kalkuliert. Was werde ich gewinnen, was verlieren? Ist der nächste Karriere- und Gehaltssprung den Streit vernachlässigter oder überforderter Beziehungen wert? Bin ich wirklich bereit, Gesundheit, Herzensruhe und Seelenfrieden zu opfern? Alles hat seinen Preis. Und über diese aufschlussreiche “Gewinn-und-Verlustrechnung” hinaus hat mich noch ein zweiter Impuls beeindruckt:

“Besser wenig mit der Furcht des Herrn als ein großer Schatz, bei dem Unruhe ist.” (Sprichwörter 15,6)

Die Furcht des Herrn meint hier Ehrfurcht vor meinem Schöpfer und damit die Anerkennung meiner Geschöpflichkeit. Ich bin nicht all-mächtig. Ich erschaffe mich nicht grenzenlos selbst. Ich habe sowohl Fähigkeiten als auch Schwächen, bin begabt und begrenzt, stark und bedürftig. Ehrfurcht meint die dankbare und demütige Anerkennung meiner Gegebenheiten. Darin liegt eine heilsame Entlastung. Ich kann und brauche nicht alles sein und können. Geht nicht gibt’s - und darf es geben.

“Der Versuch, alles zu ermöglichen, selbst da, wo keine Resonanzen (Gaben) sind, ist keine Selbstermöglichung, sondern ein Anschlag auf die Seele. Nicht unsere Schwächen und Gebrechen stehen uns im Weg, sondern der unselige Versuch, davon frei zu sein.” (Martin Schleske in Werk|Zeuge, S. 426-427)

Damit sind wir im Leben vor wesentliche Fragen gestellt:
• Wer bin ich? Was ist mir gegeben und ermöglicht? Wo liegen meine Gaben?
• Was kann durch mich geschehen? Wo neige ich dazu, mich zu unterschätzen?
• Wer bin ich nicht und brauche ich nicht sein? Wo liegen meine Grenzen?
• Wo neige ich dazu, mich zu übertreiben? (Woran er)kenne ich mein Maß?
• Wie unterscheide ich, wann beharrliche Überwindung oder respektvolle Akzeptanz geboten ist?
• Wo darf oder sollte ich mit meinen Grenzen Frieden schließen?

Er schafft deinen Grenzen Frieden...
— Psalm 147,14
 
Karsten Kranzmann